Während der Arbeiten an einer neuen Lehrserie zum Thema „Sehnsucht nach Gott“ habe ich mich unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie sich die Sehnsucht nach dem Transzendenten im Laufe der Epochen verändert hat und bin dabei auf einen interessanten Gedanken gestoßen.
Um zu verständlich zu machen, was ich unter Transzendenz verstehe, möchte ich den Begriff kurz beschreiben. Er bezeichnet das Überschreiten des Gewöhnlichen oder Bekannten, insbesondere im spirituellen oder philosophischen Sinn. Transzendenz beschreibt den Zustand oder die Erfahrung von etwas, das jenseits unserer normalen menschlichen Erfahrungsgrenzen liegt und nicht direkt mit unseren Sinnen oder unserem Verstand erfassbar ist.
Jeder Mensch trägt die Sehnsucht nach dem Transzendenten in sich. Wir alle haben einen inneren Antrieb, der uns nach dem streben lässt, was außerhalb unseres begrenzten menschlichen Seins liegt.
Diese Sehnsucht hat Kulturen und Weltanschauungen über Jahrtausende geprägt. Während sie selbst bestehen blieb, hat sich im Lauf der Geschichte ihr Ziel verändert. In früheren Zeiten richtete sie sich auf das Übernatürliche, vor allem auf Gott. Heute kann man eine neue Richtung beobachten, die die Sehnsucht nach Transzendenz nimmt: die Transzendenz des eigenen Selbst. Viele der gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir heute erleben, lassen sich mit der Verschiebung, weg vom übernatürlichen „Du“ (Gott) zum übermenschlichen „Ich“ (Mensch) erklären und verstehen.
In der Antike und im Mittelalter war das Verständnis von Transzendenz eng mit dem Göttlichen verknüpft. In den abrahamitischen Religionen wurde die Sehnsucht nach Transzendenz als ein Streben verstanden, die menschliche Begrenztheit zu überwinden, um sich Gott zu nähern. Der Mensch erkannte seine Unvollkommenheit, suchte aber nach einem Sinn, der jenseits des Irdischen lag. Er hoffte auf Erlösung, auf ein Leben nach dem Tod oder eine Begegnung mit dem Heiligen.
Diese Sehnsucht war demütig, weil sie anerkannte, dass der Mensch aus eigener Kraft das Heilige nicht erreichen kann.
Mit der Aufklärung und dem Aufstieg des Humanismus begann sich die Blickrichtung zu verändern. Der Mensch stellte sich zunehmend in den Mittelpunkt. Anstelle eines übernatürlichen Gottes, den man anbetet, richtete sich die Sehnsucht nach Transzendenz auf den Fortschritt, die Wissenschaft und die Vernunft. Der Mensch wollte seine Welt verstehen und beherrschen. Transzendenz wurde nicht mehr als etwas verstanden, das primär im Religiösen verwurzelt ist, sondern als das, was sich dem direkten Zugriff entzieht, was über die Grenzen der menschlichen Vernunft hinausgeht.
Heute leben wir in einer Epoche, die wir "Postmoderne" nennen. Sie bringt fast zwangsläufig eine neue Form der Transzendenzsuche hervor. Den Blick auf der Suche nach dem „Übermenschlichen“ auf Gott zu richten, erscheint vielen, vor allem jungen Menschen als zu „billig“. Doch wenn das Übernatürliche im Außen abgelehnt wird, bleibt nur noch der Blick nach Innen. Genau das ist, was wir so deutlich in den Debatten über Geschlecht, Identität und Körperlichkeit erleben: Der Mensch möchte sich selbst neu erfinden, er sehnt sich danach die Begrenzungen seines Geschlechts und seiner biologischen Realität zu überwinden. Begriffe wie „Selbstidentifikation“ und „Genderfluidität“ sind Ausdruck dieser Entwicklung. Der Gedanke, das eigene Geschlecht nicht als gegeben anzusehen, sondern als wandelbare Konstruktion zu verstehen, scheint für viele eine neue Form der Selbst-Transzendenz darzustellen.
Für mich fühlt es sich an, als ob der Mensch die Idee Gottes verlassen hat, um sich selbst an seine Stelle zu setzen. Der eigene Körper, einst als Tempel des Heiligen angesehen, wird zum Experimentierfeld. Die Hoffnung scheint zu sein, durch diese Selbstüberwindung, durch das Ablegen biologischer oder gesellschaftlicher Begrenzungen, Erfüllung zu finden.
Wird das funktionieren?
Die Sehnsucht nach Transzendenz ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, doch der aktuelle Trend, Transzendenz im „Übermenschlichen“ zu suchen – also im Überschreiten der eigenen Identität und Natur –, führt aus meiner Sicht ins Leere. Wenn der Mensch glaubt, dass er nur in der ständigen Neuerfindung seiner selbst Erfüllung findet, was bleibt dann von seinem tiefsten Kern noch übrig? Wenn alles fluide ist, dann gibt es kein „Ich“ mehr, keine Identität und keine Verwurzelung in ewigen Werten, die Halt im Leben geben. Für mich gleicht diese Vorstellung einer Schreckensvision.
Die Sehnsucht nach Transzendenz, die auf das eigene Ich gerichtet wird, kann leicht zur Selbsttäuschung werden und in eine endlose Spirale der Unsicherheit, des nie zu stillenden Dranges nach Einzigartigkeit und letztlich in die Isolation führen.
Ich glaube, dass in der Suche nach der Transzendenz des eigenen Selbst ein entscheidender Punkt übersehen wird:
Die Begrenzungen, die augenblicklich so viele junge Menschen als beengend empfinden, sind gerade das, was uns Halt gibt. Sie anzunehmen, lässt Demut und Frieden in uns einziehen.
Man mag mich für einen Nostalgiker halten, einer der das Vergangene verherrlicht und sich daran klammert. Das stört mich nicht, denn ich weiß, wie sehr ich davon profitiere, wenn ich meine menschlichen Begrenzungen akzeptiere. Ich sehe den Versuch, einen Evolutionsschritt, der den Menschen aus seinen Beschränkungen herausheben soll, erzwingen zu wollen oder so zu tun, als wäre er bereits vollzogen, als den verzweifelten Versuch an, um an Gott vorbei kommen zu können, ihn auszutricksen zu wollen, ihn nicht zu brauchen. Damit schafft man zugleich jeden tragfähigen Lebensgrund ab:
Wenn alles fluide wird, dann stehen wir auf einem schwammigen Boden.
Ich meine es in keinster Weise überheblich, wenn ich schreibe, dass ich echtes Mitleid mit den Menschen habe, die den Weg der vermeintlichen Überwindung des eigen Ichs durch eigene Neudefinition eingeschlagen haben. Es ist ein Weg, der viel verspricht, auf dem der Mensch aber letzlich große Verluste erleidet. Die Versprechen, die von den Verkündigern der Selbstbefreiung, die am Beginn dieses Weges stehen und ihn lautstark bewerben, gemacht werden, entpuppen sich als leere Verheißungen. Es ist Weg der unnötigen Mühe.
Letztlich ist das auch kein neuer Weg. Der Zeitgeist wechselt nur alle paar Dekaden das Straßenschild aus. Das ändert aber nichts daran, dass der Weg ohne Gott den Menschen seiner gottgegebenen Würde beraubt und ihn ins Abseits führt.
Ich wünsche dir eine Woche, in der du ein doppeltes Ankommen erlebst: Bei dir und deinen menschlichen Begrenzungen, und bei Jesus, der alle Grenzen überwunden hat und in dem unsere Sehnsucht nach Transzendenz ihre Erfüllung findet.
Alles Liebe. Rainer
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